Interview: „Zuhören ist der Anfang von allem“

Gesundheit sei die erste Pflicht im Leben, meinte Oscar Wilde. Auch wenn der Schriftsteller ein Mann war: Sind es nicht eher die Frauen, die ihm da beipflichten würden?

Das ist wohl wahr. Männer tendieren dazu, eine Arztpraxis als eine Art Reparaturwerkstätte zu sehen, die sie von akuten Beschwerden befreien soll. Frauen reflektieren ihren Körper anders. Das geht schon in der Pubertät los, wenn sich die Mädchen mit ihrem Zyklus und ihrer Fruchtbarkeit auseinandersetzen und dafür viel sorgfältiger in sich hineinhorchen als Jungs. Ihr Körper verändert sich in dieser Zeit einfach ungleich substanzieller. Wenn später die Hormonproduktion nachlässt, zweifeln Frauen infolgedessen auch mehr als Männer an ihrer Geschlechtsidentität. Zudem sind die Vorsorgeuntersuchungen viel klarer definiert, sodass man sagen kann, dass Frauen in der Regel eine stärkere Kultur der Selbstsorge haben.

Ist es diese Kultur, die Sie zur Frauenheilkunde gebracht hat?

Nein. Für mich war gleich klar: Ich will operieren. Also hatte ich mich als angehende Ärztin mit wehenden Fahnen auf die klassische Chirurgie gestürzt. Doch dann absolvierte ich ein Praktikum bei einem tollen Oberarzt in der Frauenheilkunde. Und plötzlich war es keine Frage mehr, welches Fachgebiet es sein musste. Mit diesem Kollegen habe ich alle möglichen Eingriffe durchgeführt, von den meisten ästhetischen Brust-OPs bis zu minimalinvasiven Verfahren, die ja in der Gynäkologie erfunden und entwickelt wurden. Dazu kommt, dass Sie in der Frauenheilkunde nicht so ausschnittsweise arbeiten wie in anderen Disziplinen – ein klassischer Chirurg etwa operiert nach einem CT-Bild und sieht dann den Patienten nie wieder. Die Frauenheilkunde dagegen ist das einzige Fach, in dem Sie die Diagnose selber stellen, die OP machen und danach die Therapie.

Ist also diese Ganzheitlichkeit der Schlüssel für Ihre Liebe zum Beruf?

Das kann man so sagen. Neben dem hohen Maß an Innovation macht diese besonders ganzheitliche Verfasstheit den Kern der Faszination Frauenheilkunde aus. Man hat ja als Gynäkologin Patientinnen von ganz jung bis ganz alt vor sich. Vom Teenager bis zur Seniorin, von den Zeitabschnitten der Pubertät, der Ausbildung und der Schwangerschaft über die Lebensmitte und die Wechseljahre bis zum hohen Alter. Wenn man so will, sieht man in der Schülerin schon die alte Dame und erkennt umgekehrt in dieser das 15-jährige Mädchen, das sie einmal war.

Spielen Operationen als niedergelassene Ärztin noch eine Rolle?

Abgesehen von kleineren Laser-OPs und dergleichen nicht mehr im handfesten Sinn. Bei meiner letzten klinischen Station, der Frauenklinik Osnabrück, stand ich als Leiterin der Senologie irgendwann im OP-Saal und wusste, dass dieser Abschnitt jetzt zu Ende geht, dass ich etwas Neues machen will. Aber meine Erfahrungen auf diesem Gebiet sind auch heute noch von großem Nutzen. Einerseits, weil ich einen intensiven Kontakt zu tollen Operateuren pflege, mit denen ich mich bestens verstehe, was übrigens im Interesse der Patientinnen nicht zu unterschätzen ist. Und andererseits, weil ich bei der Abklärung von Beschwerden und Therapieoptionen genau weiß, was möglich und in Einzelfällen ratsam ist. Zum Beispiel lassen sich heute zuweilen Blutungen, die medikamentös kaum in den Griff zu bekommen sind, dank einer minimalinvasiven Gebärmutterspiegelung stoppen. Das sind Möglichkeiten, die man als niedergelassene Frauenärztin im Kopf haben sollte, um das Beste für die Patientin herausholen zu können.

Erfahrung und Wissen sind das Eine, die Fähigkeit, die Situation einer Patientin klar zu erfassen, das Andere. Was macht sie aus?

In erster Linie das Zuhören. Das ist der Anfang von allem. Und der Grundstock jeder guten Arzt-Patienten-Beziehung sowie jeder anspruchsvollen Behandlung. Dass dafür in kassenärztlichen Praxen praktisch keine Zeit bleibt, ist ja eine schier himmelschreiende Verschwendung medizinischen Potenzials. Was aber nicht heißt, dass man der Patientin einfach nur irgendwie sein Ohr zu leihen hätte. Richtiges Zuhören ist vielmehr ein aktiver und kreativer Akt, bei dem ich unablässig Informationen sortiere, gewichte und miteinander in Verbindung bringe. So kann ich erkennen, auf welcher Ebene die Diagnostik weitergehen muss. Das gilt auch und vor allem dann, wenn ich bei neuen Patientinnen mindestens 30 Minuten lang bewusst kaum eine Zwischenfrage stelle. Bei Erstterminen ist deswegen immer eine ganze Stunde eingeplant.

Welche Rolle spielt dabei die Psychosomatik?

Eine riesige. Etwa ein Drittel aller Diagnosen in der Frauenheilkunde haben eine psychosomatische Dimension. Was keinesfalls bedeutet, dass die Patientinnen sich etwas einbilden, wie viele meinen. Mobbing im Beruf, ungeklärte Familiensituationen, Partnerschaftsprobleme und dergleichen mehr können ganz handfeste, quälende somatische Beschwerden hervorrufen. Durch professionelle Gesprächstechniken wie etwa Rückspiegelungen kann man sie freilegen und dann mit entsprechenden Maßnahmen angehen. Ein Beispiel dafür sind die chronischen krampfartigen Unterbauchbeschwerden, die zu den häufigsten Gründen zählen, eine Frauenärztin aufzusuchen. Sie können diese Frauen dann auf den Kopf stellen, aber organisch rein gar nichts finden und nirgendwo ansetzen. Erst wenn die inneren Konflikte als Grund dafür ausgemacht sind, kann sich da etwas fundamental ändern.

Der Körper als der Übersetzer der Seele ins Sichtbare …

Richtig, auch wenn sich dieses Sichtbare zuweilen nur diffus zu erkennen gibt. Es geht aber auch umgekehrt. So wie Unterbauchbeschwerden, Störungen des Herz-Kreislaufsystems oder Asthma von der Psyche herrühren können, ist es auch möglich, dass Panikattacken und Schlaflosigkeit körperlich beziehungsweise hormonell bedingt sind. Manchmal kommt bei der Anamnese allerdings etwas relativ Banales, rein physiologisch Relevantes heraus. Eine Nahrungsmittel-Unverträglichkeit zum Beispiel, vielleicht in Form einer Laktoseintoleranz. Als Frauenheilkundlerin müssen Sie Ihre Augen eben überall haben.

Klingt nach Detektivarbeit …

Da ist was dran. Wir ermitteln in alle Richtungen, würden die Fernsehkommissare sagen. Man könnte aber auch den Philosophen Heraklit zitierten. Das Wesen der Dinge hat die Angewohnheit sich zu verbergen, sagte der. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

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